Anders als die Andern

… so hieß der erste Spielfilm, der sich mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte. Gedreht wurde er 1919. Seitdem sind fast hundert Jahre vergangen. Seitdem haben sich die Dinge für Homosexuelle fundamental geändert: der Kampf gegen homosexuellenfeindliche Gesetze, die Bemühungen um Aufklärung, gerade auch der Jugend, die mittlerweile vielen offen Homosexuellen im öffentlichen Leben – all das hat zu einer massiven Verbesserung der Lage homosexueller Menschen geführt. Was noch zu Zeiten des Aktivisten Harvey Milk vor vierzig Jahren undenkbar war, ist heute Normalität: zwei europäische Staaten haben homosexuelle Regierungschefs, etliche Großstädte werden von homosexuellen Bürgermeistern regiert, Filmstars, Fernsehmoderatoren und auch immer mehr Sportler bekennen sich öffentlich zu ihrer Homosexualität. Selbst in einer so konservativen Organisation wie der Katholischen Kirche kann der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki inzwischen sagen: „Ich halte es für vorstellbar, dass dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, wo sie in dauerhaften homosexuellen Beziehungen leben, dass das in ähnliche Weise zu heterosexuellen Partnerschaften anzusehen ist.“

Dank dieser Entwicklung, dank auch des unermüdlichen Einsatzes vieler homo- wie heterosexueller Menschen, ist es heute zumindest im westlichen Kulturraum für viele Homosexuelle möglich, ein Leben ohne Ausgrenzung und Diskriminierung zu führen. Gerade die unter 40jährigen, die in einer vom gesellschaftlichen Wandel nach 1968 geprägten Gesellschaftaufgewachsen sind und leben, haben Chancen, von denen Oscar Wilde oder Ludwig Wittgenstein nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Dass man anders als die Andern ist, ist für Homosexuelle inzwischen oft nur noch so sehr erfahrbar wie es für einen passionierten Fußballfan oder eine Linkshänderin erfahrbar ist.

Im Laufe der Emanzipationsbewegung der letzten 150 Jahre war es wichtig, sich abzugrenzen von der umgebenden heterosexuellen Umgebung: Dadurch konnte sich ein eigene Identität herausbilden und man konnte sich langsam des Zwangs zur Anpassung an heterosexuelle Lebensformen entledigen. Die Männer und Frauen, die bei den Stonewall-Unruhen auf die Straße gingen, bezogen ihre Kraft dazu auch aus der bewussten Abgrenzung. Der junge Homosexuelle in der deutschen Kleinstadt in den 70er Jahren festigte sein Selbstbewusstsein gerade dadurch, dass er abends nicht mit den andern zum Biertrinken ging, sondern sich in seinem Zimmer mit David-Bowie-Schallplatten zurückzog. Man wehrte sich gegen das vorherrschende, heterosexuell dominierte Weltbild, die Heteronormativität. Man war anders als die Andern.

Seit gut zwanzig Jahren beschäftigt sich die Queer-Theorie mit der Frage von sexuellen und Geschlechteridentitäten. Beeinflusst von der philosophischen Denkschule des Dekonstruktivismus werden soziale und kulturelle Normen in Frage gestellt und mitunter jegliche Art von Definition verworfen. Anderssein wurde auf den Schild gehoben. Abweichung wurde die neue Norm.

Und genau hier ist das Problem. Die enorme Verbesserung der Situation von Homosexuellen in der Gesellschaft führt dazu, dass es für viele nicht mehr der Abgrenzung bedarf, um die eigene Identität zu finden und zu sichern. Wenn es im eigenen Umfeld kein Problem mehr darstellt, offen homosexuell zu leben, kann sich auch das Bedürfnis verlieren, die eigene Andersartigkeit herauszuheben. Denn das tun ja auch passionierte Fußballfans und Linkshänderinnen nicht. Viele, insbesondere jüngere, Lesben und Schwule empfinden sich schlichtweg als normal. „Normal“ aber, stellt normativ die Queer-Theorie fest, sei ein Konstrukt. Und wer sich als „normal“ bezeichne, verliere – oder gar verleugne – die eigene Identität. Manchen Vertretern dieser Theorie fällt wohl nicht auf, dass diese Queer-Normativität ebenso repressiv sein kann wie die Heteronormativität.

Obwohl es auch heute noch Homophobie und Diskriminierung gibt, hat sich zum Glück die Situation der Homosexuellen in den westlichen Gesellschaften grundlegend geändert. Homosexualität ist, wie es der amerikanische Journalist Andrew Sullivan in einem Buchtitel im Jahr 1995 festhielt, „virtually normal“. Es bleibt zu hoffen, dass diese Entwicklung anhält. Und es bleibt zu hoffen, dass Vielfalt und Pluralität mehr und mehr zu einem prägenden Faktor unseres Alltagslebens werden. Doch zur Akzeptanz von Vielfalt gehört eben auch die Akzeptanz aller Lebensentwürfe. Ein Homosexueller, der sich als normal empfindet, der kein Bedürfnis hat, sich abzugrenzen von seiner vorwiegend heterosexuellen Umwelt, sollte nicht mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sich anpassen zu wollen. Entscheidend ist, dass jeder Lebensentwurf toleriert wird: der des „normalen“ Homosexuellen ebenso wie der einer queeren Transgender-Frau. Keiner der beiden sollte von einem normativen Standpunkt aus be- und verurteilt werden.

Es ist ein großes Glück, dass wir inzwischen an einem Punkt angekommen sind, wo sich viele Homosexuelle nicht mehr als anders als die Andern empfinden müssen. Diese Errungenschaft ist auch ein Auftrag für die Zukunft. Wir müssen daran arbeiten, dass es für jeden möglich wird, die eigene Identität zu leben, frei von Normen – von wem auch immer sie formuliert werden.

Erschienen in: freiraum 4/2012, 20f

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